Besuch einer Amerindianerin am Litauischen Gymnasium

Am 16.06.2015 füllte sich der Schlosssaal des Litauischen Gymnasiums am späten Vormittag mit den Schülerinnen und Schülern der 8.-10. Klasse, um einem Vortrag einer Amerindianerin vom Stamm der Kali’na (Galibi) über das Leben und die Probleme der indigenen Völker des Amazonasbeckens und des Guayanaschildes zu berichten. Während sich die Abiturienten mit ihren Prüfungen beschäftigen mussten, stand für die Schülerinnen und Schüler der Klassen 8 bis 10, die im Schlosssaal weilten, eine besondere Begegnung auf dem Plan.

Am 16.06.2015 füllte sich der Schlosssaal des Litauischen Gymnasiums am späten Vormittag mit den Schülerinnen und Schülern der 8.-10. Klasse, um einem Vortrag einer Amerindianerin vom Stamm der Kali’na (Galibi) über das Leben und die Probleme der indigenen Völker des Amazonasbeckens und des Guayanaschildes zu berichten. Während sich die Abiturienten mit ihren Prüfungen beschäftigen mussten, stand für die Schülerinnen und Schüler der Klassen 8 bis 10, die im Schlosssaal weilten, eine besondere Begegnung auf dem Plan.

Nachdem Herr Conrad kurz Frau Josien Aloeman-Tokoe vorgestellt und einleitend über Suriname, das Heimatland von Frau Tokoe berichtet hatte, begann die Veranstaltung, die zunächst ausschließlich in englischer Sprache, während der Fragestunde auch mit deutscher Übersetzung, durchgeführt wurde.

Frau Josien Tokoe ist die Tochter eines der Häuptlinge der Gemeinde Galibi an der Flussmündung des Marowijene (Maroni) in Ostsuriname, direkt an der Grenze zu Französisch-Guayana. Sie gehört dem Karaibenvolk der Kali’na (Galibi) an. Im Ort Galibi leben derzeit ca. 740 Einwohner, der Stamm umfasst mehrere tausend Individuen in Suriname und Französisch-Guayana. Josien Tokoe lebt mit ihrem Mann, dem Schriftsteller und Konservator indianischer Mythen Surinames Nardo Aloeman, der bis zu seiner Erkrankung vor einigen Jahren auch aktiv in der Politik Surinames tätig war, in der Hauptstadt Paramaribo.

2013 wurde Josien Tokoe als Bereichsleiterin für Gender (soziale Geschlechterrollen), Frauen und Familie des Dachverbandes der Organisationen indigener Völker des Amazonasbeckens (COICA) bestätigt, eine Organisation, die derzeit ca. 400 indigene Völker mit rund 3 – 4 Millionen Menschen vertritt. Sie ist in dieser Funktion auch für Fragen der Erziehung sowie der Menschenrechte zuständig.

Weiterhin ist sie seit vielen Jahren Delegierte und Vertreterin der Organisatie van Inheemsen in Suriname (OIS – Organisation der Ureinwohner Surinames) bei internationalen Konferenzen; in dieser Funktion ist sie u.a. auch bei den Vereinten Nationen assoziiert.

Josien Tokoe hielt sich kurz vor der Veranstaltung im Litauischen Gymnasium als Vertreterin der COICA bei der UN-Weltklimakonferenz in Bonn auf, da sich die Klimafrage für die indigenen Völker auch als eine Frage der Menschenrechte darstellt.

Auf Wunsch von Herrn Conrad (Vorstand für besondere Aufgaben des Fördervereins des Litauischen Gymnasiums), der Frau Tokoe schon seit rund 20 Jahren kennt, selbst mehrere Jahre in Französisch-Guayana gelebt und über beide Länder mehrere Reiseführer sowie einen Kurzgeschichtenband veröffentlicht hat, erklärte sich Frau Tokoe dazu bereit, an einer Diskussionsveranstaltung mit den Schülern des Litauischen Gymnasiums teilzunehmen.

Suriname (seit 1975 unabhängig), neben Französisch-Guayana die Heimat der Kali’na, befindet sich am Nordostzipfel des südamerikanischen Kontinents, auf dem sog. Guayanaschild, welches im Norden und Westen durch den Orinoco, im Süden durch das Tumuk-Humak-Gebirge sowie den Fluss Araguari in Brasilien und im Osten durch den Atlantischen Ozean begrenzt wird. Das Tumuk-Humak-Gebirge bildet dabei die Grenze zwischen Brasilien, Französisch-Guayana (Teil der Europäischen Union), Suriname, Guyana und Venezuela. Es steigt dabei von wenigen hundert Metern Höhe im Süden immer weiter an, bis es im Grenzgebiet zwischen Brasilien und Venezuela die gewaltigen, gut 3.000 Meter hohen Tepui-Tafelbergen erreicht. Dieses Gebirge zählt zu den fast gänzlich unerforschten Gebieten dieser Erde.

Obwohl das Guayanaschild nicht direkt zum Amazonasbecken gehört, haben sich die indigenen Völker dieser Region der Dachorganisation der Amerindianer des Amazonasbeckens (COICA) angeschlossen, um ihre gemeinsamen Interessen besser national und international vertreten zu können. Auch arbeitet die surinamische OIS eng mit den Gruppierungen der Bosh-Negroes („Buschneger“ – dies ist eine Eigenbezeichnung der schwarzen Inlandbewohner afrikanischer Herkunft in Suriname) zusammen, da die Probleme und Interessen beider Gruppen beinahe identisch sind.
 
Frau Tokoe berichtete nach einer kurzen persönlichen Vorstellung von Ihrem Dorf und den familiären Strukturen. Weiterhin unterstrich sie die Vielfalt der in Suriname lebenden Ethnien (Amerindianer, afrikanische Stämme – Maroons oder Bosh-Negroes genannt –, Kreolen, Chinesen, Inder, Javaner und Europäer). Zwar habe es in der Vergangenheit – insbesondere während des viele Jahre dauernden Bürgerkrieges (1986 – 1992) – auch Probleme zwischen den Ethnien gegeben, doch die seien größtenteils überwunden worden. Die im Inland lebenden Indianer und Maroons hätten heute jedoch neue Probleme, die nur gemeinsam zu lösen seien: durch illegale Einwanderung insbesondere von brasilianischen Goldsuchern sei es neben sozialen Verwerfungen und Gewalt zunehmend zu Umweltschäden gekommen, die u.a. auch zu erheblichen und gefährlichen Krankheiten bei den Inlandsbewohnern geführt hätten. Dieser Umstand bedrohe zusehends die Lebensfähigkeiten der Dorfgemeinschaften.
 
Gleiches gelte aber auch im Hinblick auf die gesetzlichen Bestimmungen in den Naturschutzgebieten, in denen sich allerdings auch viele Indianer- und Maroondörfer befänden. In diesen Gebieten sei die Jagd, teilweise sogar der Fischfang bzw. der Anbau von Kulturpflanzen reglementiert oder gänzlich verboten, wodurch die Bewohner illegalisiert würden. Die Lebensgrundlage würde den Menschen durch diese Regelungen entzogen. Die Natur sei für die Ureinwohner und Bosh-Negroes jedoch nicht nur Teil ihres spirituellen Lebens, sondern eben auch eine Art „Supermarkt“, von dem sich die Bewohner ernährten. Daher sei man mit der Regierung sowie dem WWF in Verhandlungen darüber, wie man die sicherlich sinnvollen Regelungen zum Schutz der Natur so abändern könne, dass die indigenen- und Maroonvölker weiterhin in ihren ursprünglichen Siedlungsgebieten verbleiben können. Vom Ausgang dieser Verhandlungen sei auch ihr Dorf betroffen. Man wolle dadurch aber auch Zwangsumsiedlungen verhindern, wie sie in der Vergangenheit zum Bau des Staudammes in Suriname vorkamen und Tausende Maroons entwurzelte. Sollte es allerdings zu keiner Einigung kommen, so stünde auf lange Sicht eine Abwanderungsbewegung aus den Dörfern bevor, da dort keine Einnahmequellen mehr bestünden.
 
Im Folgenden schilderte Frau Tokoe in eindrucksvollen Darstellungen die Naturverbundenheit der Amerindianer mit der Natur. Dazu trug sie u.a. auch eine kleine Zeremonie vor, wie sie diese von ihrer Mutter gelernt hatte.
 
Im Anschluss an ihren Vortrag, dem die Schülerinnen und Schüler angeregt folgten, las Herr Conrad eine Kurzgeschichten über seine Begegnungen mit surinamischen Inlandsindianern aus seinem Kurzgeschichtenband vor, dem dann Josien Tokoe zwei Gedichte ihres Mannes Nardo Aloeman folgen ließ, die ebenfalls diesem Buch entnommen wurden. Der Vortrag der Gedichte in Kali’na, der Sprache des Stammes von Frau Tokoe, beeindruckte die Schülerinnen und Schüler sichtlich, die Übersetzung wurde von Herrn Conrad nachgeliefert.
 
An der folgenden Fragestunde beteiligten sich die Schülerinnen und Schüler ausgesprochen rege, sodass es zu interessanten Einblicken u.a. in die Finanzierung und Arbeit von Frau Tokoe kam. Aber auch die Fragen zur Sicherung des Lebensunterhaltes wurden weiter vertieft.
 
Schließlich tauchte während der Diskussion sogar die Frage eines möglichen Schüleraustausches auf, der auch interessante Einblicke in das Schulleben der indianischen Kinder gewährte, die nur ihre Grundschulzeit im Dorf verbringen können, danach müssen die Schüler täglich mehrere Stunden mit dem Boot nach Albina, der Grenzstadt zu Französisch- Guayana fahren, um die dortige Schule zu besuchen. Eine weiterführende Schule gibt es allerdings auch dort nicht: die Kinder, die ein Gymnasium oder gar die Universität besuchen wollen, müssen in die Hauptstadt Paramaribo ziehen. Dort müssen sie dann bei Verwandten oder Freunden der Familie wohnen, denn Internate gibt es nicht. Frau Tokoe war daher ganz besonders vom Internat des Litauischen Gymnasiums sowie von der Einbindung der Schule in die Natur (Park, Wald und Teich) angetan und erkannte darin ein Beispiel für Möglichkeiten, den indianischen- und Marronkindern vielleicht zukünftig ein ähnliches Internat in Paramaribo bieten zu können.
 
Bevor Frau Tokoe von der Direktorin ein Gastgeschenk erhielt, bedankte sie sich bei den Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums für das ausgesprochen große Interesse und die außergewöhnlich guten Fragen.
 
Wie sie Herrn Conrad später mitteilte, wurde ihr Besuch des Litauischen Gymnasiums auch in Suriname mit großem öffentlichem Interesse zur Kenntnis genommen.
 
Das Litauische Gymnasium möchte in diesem Zusammenhang Frau Josien Aloeman-Tokoe nochmals für ihren Besuch unserer Schule danken

© Bernhard Conrad, 06.2015

Folgende Presseberichte wurden veröffentlicht:

  • http://www.lampertheimer-zeitung.de/lokales/lampertheim/wald-als-supermarkt_15611690.htm
  • http://www.echo-online.de/region/bergstrasse/kreis/Der-Wald-dient-als-Supermarkt-und-Apotheke;art1145,6317476

Eine Version dieses Berichtes mit Karten- und Bildmaterial finden Sie im Anhang!